Meine Erfahrung mit Freikirchen geht eher in die Richtung, dass nicht jede Person gleichermaßen gern in der Gemeinde gesehen wird. Besonders gern gesehen sind junge Familien und allgemein junge Menschen im Berufsleben und mit gutem Einkommen. Einige ältere Leute noch, aber nur, wenn sie gut situiert sind und sich bereitwillig ehrenamtlich engagieren.
Die Freikirchen benötigen finanzielle Mittel, die sie nicht aus gesetzlichen Kirchensteuern erhalten können. Die Finanzierung erfolgt ausschließlich auf Spendenbasis der Mitglieder. Deshalb wird in der Regel von jedem Mitglied der 10. Teil des Einkommens "gewünscht". Diesem "Wunsch" wird meist auch intensiv "Nachdruck" verliehen. Ist absehbar, dass von einem Interessenten wenig bis kein Beitrag kommen wird, ist er für die Freikirche nicht sonderlich interessant. So fallen vor allem Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben, in der Regel durchs "Beuteraster" der Freikirchen. Wer will sich mit Mitgliedern behängen, die arm und alt sind, wenig attraktiv bis ungepflegt aussehen, zu schwach sind um sich intensiv ins Gemeindeleben einzubringen und darüber hinaus noch nicht mal zur Finanzierung mit beitragen, sondern am Ende sogar noch Geld kosten?
Es bildet sich in den Freikirchen also schnell eine gesellschaftliche "Blase" in der die Mitglieder recht gleichartig sind: jung, dynamisch, zahlungsfähig, sozialverträglich, gut motiviert, fest ins Gemeindeleben integrierbar, äußerlich hübsch anzusehen, gut gekleidet, freundlich, hilfsbereit, usw.
Alle vereint durch ihren "Glauben" und ein oft tägliches "intensives Miteinander". Wer hier rein rutscht, der fühlt sich schnell wohl und geborgen und angenommen und genau so soll es sein. Man hilft sich vor allem gegenseitig und verbringt viel Zeit miteinander bei allen möglichen Aktivitäten. Jeder fühlt sich schnell rundum wohl und ist so auch bereit, seinen 10-ten Teil vom Einkommen beizusteuern.
Die Gottesdienste sind so gestaltet, dass sich jeder wichtig vorkommt und alles sagen kann, was ihm gerade durch den Kopf geht. Mitunter dürfen auch Laien "predigen". Es wird fetzige Musik gemacht und jeder, der sich daran beteiligt und auf der Bühne steht, ist ein kleiner Star. Es wird frei gebetet und "Spiritualität" mit erhobenen Händen zelebriert. Anschließend wird oft gemeinsam gekocht und gegessen und wichtige Aktivitäten besprochen. Die Woche und damit die eigene Freizeit wird durchgeplant. Bibelstunden, Lobpreisabende und allerlei andere gemeinsame Aktivitäten.
Kehrseiten der Medaille:
- Wer sich bei so einer starken sozialen Einbindung und Kontrolle wohl fühlt, der ist gerne gesehen. Wem das zu viel wird, der wird "sanft" unter Druck gesetzt, damit er ja nicht ausschert. Es gibt kaum noch ein zurück.
- Die Gemeinde kreist im wesentlichen um sich selbst, ohne es zu merken. Jeder fühlt sich in seiner tollen Blase wohl, aber alle anderen fallen unten durch.
- Die "Prediger" sind oft schlecht bis gar nicht ausgebildet und legen gerne die Bibel nach Gutdünken aus, so wie es für die Gemeinschaft gerade nützlich ist.
- Absolute Laien erzählen mir etwas von ihrem Glauben und wie ich in deren Augen leben soll.
Wo bleiben da die christlichen Grundsätze einer Gleichbehandlung aller Menschen, unabhängig von ihrem Einkommen, Ansehen und Aussehen?
Wo bleibt die persönliche Freiheit, meinen Glauben individuell auszuleben wo, wann, wie oft und wie intensiv ich möchte?
Wo habe ich die relative Gewissheit, dass mir die Worte der Bibel fundiert ausgelegt werden und nicht ideologisch?
Wo habe ich eine regelmäßige Liturgie, in der ich mich zuhause fühlen kann?
Wo bin ich auch noch gern gesehen, wenn ich meine Arbeit verloren habe und verarmt bin, alt und schwach geworden bin?
Wo habe ich eine hochkarätige, musikalisch wertvolle Kirchenmusik? Eine Kirchenmusik, die sich Gott zuwendet und nicht einem Musiker-Star?
Dies finde ich persönlich alles in einer evangelischen Landeskirche oder in der katholischen Kirche.