Reale Orgel versus virtuelle Orgel

  • Wie schon vom Forenmaster angesprochen, möchte ich hier eine Diskussion über einen spezifischen klanglichen Unterschied von Sample Sets versus den dazugehörigen "realen" Orgeln anregen. Obwohl dieses Thema wahrscheinlich auch GrandOrgue betrifft, habe ich es hier eingeordnet, da ich nur eine Aussage bezüglich Hauptwerk treffen kann.

    Es geht nicht darum, ob Sample Set X dem Original näher kommt als Sample Set Y, oder Hersteller 1 realistisch klingendere Sets produziert als Hersteller 2. Ebensowenig um Lautsprechersysteme oder Kopfhörer. Eine gut abgestimmte Klangwiedergabe kann beeindrucken, und damit kommt man dem Original sicher ein gutes Stück näher näher.

    In den letzten 10 Jahren konnte einige historische Orgeln, die (mit wenigen Ausnahmen) auf dem heimischen PC als Hauptwerk-Sets erklingen, im Rahmen von Orgelreisen in den Niederlanden kennenlernen. Leider waren uns wegen der Teilnehmerzahl pro Instrument nur 5-10 min vergönnt (die Kampener und die Groninger bespielten wir mehrfach) und somit waren lediglich ein paar Registerkombinationen zu erforschen. Es ist klar, daß der Klang am Spieltisch und im Kirchenschiff zuweilen sehr verschieden ausfällt.

    Mein Eindruck: bei allen Sets sind die einzelnen Register wunderbar aufgenommen (soweit das in der Kürze der Zeit zu beurteilen war , s.o.). Der Klangeindruck des Sets entfernt sich aber vom Original proportional mit der Anzahl gezogener Register. Mal mehr, mal weniger. Worst case kann man einen Unterschied schon bei bei einer Kombination von nur 2 Registern hören, manchmal ist ein Unterschied erst im Plenum festzustellen.

    Zwar gibt es in Hauptwerk das Windmodell und die Möglichkeit, die Pfeifen leicht gegeneinander zu verstimmen etc. Aber bei der realen Orgel „lebt“ der Klang. Nach meiner bescheidenen Einschätzung sind es neben der leichten Verstimmung der Register (in HW zu simulieren) zwei Parameter, die in Hauptwerk fehlen:

    - Die Windstössigkeit. Das ist deutlich hörbar. Ist auch mit dem Windmodell in Hauptwerk nicht befriedigend hinzukriegen (oder ich hab's nicht richtig konfiguriert)

    - Die mögliche physikalische gegenseitige Beinflussung der Pfeifen in der realen Orgel.

    Meiner Meinung nach reicht es nicht, nur einzelne Pfeifen sauber aufzunehmen, in Hauptwerk zu reproduzieren um dann mit ein paar softwaretechnischen Kunstgriffen zu versuchen, der Orgel Leben einzuhauchen Eigentlich müßte man bei jeder Registerkombination hinterlegen, welchen Einfluß der Winddruck und andere Parameter auf den Klang haben. Ob das überhaupt machbar ist? Ansonsten klingt ein Plenum in Hauptwerk (und wohl auch in GrandOrgue) wie die Summe einzelner Register, aber nicht so lebendig wie das Plenum an der realen Orgel.

    Peter

  • Ja, Peter.

    die gegenseitige physikalische Beeinflussung der Pfeifen ist ein ungeheuer komplexes Feld (vielerlei komplizierteste Strömungen der Luft, gegenseitige Angleichung der Stehenden Wellen In Pfeifen....u.v.a.m. ), das man (allein) mit Sampling m.E. nicht hinbekommen kann. Aber ansatzweise möglicherweise mit komplexen mathematischen Modellen, die die Samples verändern. Also eine Art physical modeling der Samples.

    In vielen Bereichen der digitalen Instrumenten-Nachbildung geschieht dies bereits. (Gute Sampler verwenden heute schon bis zu 9 verschiedene Tonerzeugungsarten gleichzeitig, die verschiedene Aspekte des Naturklangs nachbilden sollen) (Umgekehrt kommt ebenso pyhsical modeling nicht ohne Sampling aus.)

    Hauptwerk verwendet - wie du sagst - längst Ansätze davon, die jedoch deutlich weiterentwickelt werden müssen, um einen realistischeren Mischklang zu produzieren.


    Ein anderer Aspekt, warum größere Orgelregistrierungen bei den meisten Hauptwerkinstallationen nicht klingen, ist zwar kaum vertretbar vollständig, aber in sehr deutlichen Ansätzen lösbar:

    Unser Ohr nimmt Laufzeitunterschiede von weniger als eine Tausendstel Sekunde wahr (evolutionär notwendig fürs Richtungshören und blitzschnell Reagieren, wenn der Säbelzahltiger oder ein Angreifer z.B. von links hinten kommt. Das können wir recht exakt orten. Überlebenswichtig.

  • Beim Zusammenklang ergibt sich damit - wie beim Orchester - ein ungeheuer komplexes räumliches Hören.

    Die räumlichen Merkmale des Schalls werden dabei in zeitliche Differenzen umcodiert.

    (Die Ohrmuscheln wirken dabei wie Filter, die die Schallsignale durch Reflexion, Beugung, Interferenz und Resonanz linear verzerren.)

    Damit sind wir wieder bei beliebten Thema, warum die Pfeifenklänge aus leicht verschiedenen Richtungen und Entfernungen kommen müssen, um einen realeren Eindruck von Orgelklang zu erhalten.

    Dabei sind noch viele weitere Aspekte zu berücksichtigen......

    Ein buchstäblich W E I T E S Feld.....

    :)

    • Offizieller Beitrag

    Ein sehr wichtiger, hier schon in anderen Fäden diskutierter, Unterschied ist:

    In der Kirche entsteht die Klangverschmelzung durch Reflektionen und Hall im Raum. Hinzu kommen die in der Orgel selbst entstehenden Interferenzen und gegenseitigen Beeinflussungen in den Laden etc Georgy hat das schon angesprochen.

    Wird ein Register Ton für Ton für ein Set aufgenommen fehlen diese Interferenzen und die Verschmelzung im Raum.

    Die Klangverschnelzung bei HW oder GO entsteht mit ideal aufgenommenen Tönen im Verstärker. Der lebende Raum in der Kirche fehlt.

    Würde man alle Töne über separate Verstärker und Lautsprecher abspielen entsteht auch nicht das Klangbild der Kirche sondern die Klangverschmelzung im Raum in dem die HW-Orgel steht.

    Ein typisches Beispiel ist eine Schwebung. Meist wird sie aufgenommen und als Amplitudenmodulation gespeichert und wiedergegeben.

    Diese Schwebung klingt anders als würde man tatsächlich zwei Töne aufnehmen, speichern und wiedergeben. Dann werden die Originaltöne wiedergegeben und die Schwebung mit Amplitudenmodulation entsteht im Wiedergaberaum.

    Der Unterschied ist gewaltig. Ähnlich ist es bei Mixturen.

    HW und GO sind sehr weit ausgereift und erzeugen sehr schöne Orgelklänge.

    Leider kann man fehlende physikalische Gegebenheiten nicht einfach nachahmen oder Hinzufügen.

    Windstößigkeit und zufällig entstehende Verstimmungen, vorsichtig dosiert, sind Hilfsmittel die die Gegebenheiten im Aufnahmeraum ersetzen sollen. Den Originalklang erzeugen sie aber nicht

  • Wenn bei realen Orgeln zwei Pfeifen gleichzeitig erklingen, findet zwischen den beiden Orgelpfeifen ein Verschmelzungsprozess statt. Die Schallwellen der ersten Pfeife wirken auf die stehende Welle im Pfeifenkörper der zweiten Pfeife ein, verändern und modellieren diese,. Und umgekehrt wirkt die zweite Pfeife auf die erste ein. Der Klang synchronisiert sich.

    (Judith Angster/ A. Miklos 2011, Zur physikalischen Erklärung der Klangverschmelzung von Lippenorgelpfeifen)

  • Ob Hauptwerk all diese komplexen Abläufe jemals annähernd simulieren kann? ich werde daher das Angebot eines Forumsmitglieds zur weiteren Optimierung des Lautsprecher-Raumklangs annehmen.

    Was die Wiedergabe über Kopfhörer betrifft, darf man aber zumindest erwarten, daß ein Klangbild zustandekommt, das ungefähr einer CD-Aufnahme (gleicher Standort vorausgesetzt) entspricht? Das ist leider nicht immer der Fall, aber letztlich Jammern auf hohem Niveau.

    In den letzten Wochen habe ich an den Einstellungen mehrerer Sets (vor allem Nijkerk, Steinkirchen, St. Petri, Poblet) herumgeschraubt:

    96 kHz versus 48 kHz

    Manche Sets klingen mit 96kHz "besser" als mit 48 kHz, bei anderen ist es umgekehrt. Muß ich als Physik-Laie nicht verstehen, aber interessant ist es trotzdem. Im Hauptwerk-Manual ist auf

    Hallanteil

    Hallige Sets bügeln die kleinen spieltechnischen Mängel gnädig weg :saint:. Inzwischen bin ich aber dort angelangt, was Freunde und Bekannte schon jahrelang predigen: den Hallanteil bei Mehrkanalsets beträchtlich zu reduzieren, zumindest bei Wiedergabe über Lautsprecher.

    Audio engine / Wind supply model
    Bei einigen Orgeln (Steinkirchen, Nijkerk) lohnt ein Versuch mit deutlich höheren Werten (200-350 %) von Random pipe detuning adjustment und Air flow randomization adjustment, während mich das Windmodel von Hauptwerk nicht wirklich überzeugt. Die Steinkirchen beginnt mit solchen Einstellungen zu "leben" ohne verstimmt zu klingen.

    Am besten aber, man kennt die virtuelle Orgel weder als Original noch von Aufnahmen. Das kann die Zufriedenheit mit dem Set deutlich steigern!